2013 + 2014
TND - Apocalypsorama





Z’s großes TND Apocalypsorama. [°Bowiefun, Institut Z, Edition Schwurbel]


Einführung
Wie schon an anderer Stelle angedeutet, betreibt das Institut Z seit Erscheinen des Albums „The Next Day“ (aka TND im folgenden) intensive Forschungsarbeiten an demselben, welche sich seither in einer wachsenden rtf-Datei auf meinem Rechner sammelten. Wir sind nun der Ansicht, dass es an der Zeit ist, die Ergebnisse zu ordnen und der Fachwelt zu präsentieren. Es bleibt aber weiter ein „work in progress“ und kann jederzeit ergänzt, editiert und korrigiert werden.
Selbstverständlich maßen wir uns – auch als erwiesene Bowieversteher und trotz fachkundiger Beratung durch K. Bo * – nicht an, dass wir tatsächlich den Stein der Weisen gefunden haben, aber stellen unsere Thesen gern zur Diskussion.


*Dr. K. Bo

Zum Glück hält sich Herr Bowie selbst zurück mit Erklärungen zu seinem Werk, so können die Deutungen der zum Teil recht kryptischen Arbeiten munter ins Kraut schießen. Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass manche Interpretation mehr über die Gedankenwelt des Interpretierenden als über das Forschungsobjekt aussagen mag.

Vielleicht hat ja der eine oder andere Kollege Zeit und Lust das zu lesen und Senf zu ergänzen. Und vielleicht bleibt es nicht beim Senf, sondern vielleicht seht Ihr die Dinge ja gaaanz anders!



Das Werk

Vordergründiges
Wenn ein Rockstar nach 10 Jahren Pause und Herzinfarkt eine CD mit dem Titel „The Next Day“ herausbringt, dann denkt wohl jeder zunächst an ein klassisches „Come Back“-Thema: Der nächste Tag, die „Wiedergeburt“ nach Krankheit und Zwangspause.
Dazu ein wenig Nostalgie mit „Heroes“ und „Berlin“ und das über den Status Quo sinnierende „Where are we now“. Aber ist es so einfach? Wir stellten schon kurz nach dem ersten Anhören der CD fest, dass eine solche Einschätzung weder Herrn Bowie noch dem Album gerecht wird…

Subjektive Einschätzung
Im Großen und Ganzen ist das Institut Z sehr angetan von TND. Das liegt vor allem daran, dass der Sound des Albums ziemlich genau meinen Lieblingsbowiealbengeschmack trifft. „Lodger“, eine deutliche Referenz, war und ist nun einmal eines meiner Lieblingsalben. Auf „Lodger“ stieß ich, als ich gerade die ersten beiden Roxy-Music-Platten rauf- und runterhörte. Das passte gut zusammen und diesen Sound mag ich immer noch. Wie beschreibt man ihn? Artrock, Britpop, Glam, Collegerock? Irgendwo dazwischen wohl. Der Sound zeichnet sich aus durch exakte Arrangements, Zitate, Ironie, Studiospielereien, angeschrägte Melodien und vielstimmige Backgroundgesänge. „Klingt wie Bowie“ würde man anderen Bands sagen, wenn sie SO klingen. Also traf TND meinen Geschmack. Das hätte nicht so sein müssen, ich mag bei weitem nicht jedes Bowiealbum. Dies betrifft vor allem die „bösen 80er“, aber auch Alben, die von Kollegen sehr geschätzt werden. Jedem seinen Bowie. TND ist zufällig meiner.


Der eng gewebte Teppich
Das Album enthält keinerlei Füllmaterial. Es fehlen Coverversionen, was uns generell freut, obwohl manches bowöse Cover durchaus ein Meisterwerk ist. Aber es bedeutet, dass Bowie genug eigenes Material hat und nicht auf fremdes zurückgreifen musste.
TND ist so dicht gewebt wie ein hochwertiger Orientteppich. Die Songs sind perfekt eingespielt und umfangreich arrangiert. Auch nach dem soundsovielten Anhören entdeckt man noch neues. Da stimmt jeder Ton, jede Betonung der Singstimme, jedes Geräusch im Hintergrund, jedes Wort, jede Zeile. Ich will gar nicht wissen, wie lange die daran im Studio herumgesägt haben. Da ist kein Ton zuviel und keiner zu wenig.

Die einzelnen Stücke sind sehr knapp und kurz. Eigentlich sind sie für unseren Geschmack zu kurz. Wir vermissen die instrumentalen Ausbeulungen, welche für später live zu spielende Soli und Improvisationen Raum bieten würden.
Allerdings sind bei Bowie die offiziellen Albumversionen oft recht knappe Konzentrate, die bisweilen live schwer reproduzierbare Studiotricks enthalten.
Die Songs entfalten ihr Live-Potential erst auf den Bühnen der Welt - so geschehen vor allem bei Tin Machine. Die Studiosounds müssen dann unter den Tisch fallen, was bedauerlich ist, aber durch die grandiosen Liveeinspielungen werden wir mehr als entschädigt.
Da müssen wir also weiter hoffen, dass auch die Songs von TND noch das Licht der Bühne erblicken werden. Ich kann es kaum erwarten, dass bei „How does the Grass Grow“ der ganze Saal mitgröhlt. Bootlegsternstunden!

Fast klingt das Album zu perfekt, zu steril. Das irritiert dort, wo Bowie Gefühle ausdrücken möchte – und das tut er die ganze Zeit. Ein Song wie „Love is Lost“ ist ein kleines Meisterwerk und kann Tränen in die Augen treiben.
Aber es ist keine Spontaneität darin, kein Überschwang. Die Emotionen sind fein säuberlich mit dem Chirurgenmesser und mit aller Raffinesse, die das Studio hergibt, in Szene gesetzt. Es ist das totale Gegenteil von „Live“.

Kann man mit unterkühlter Airbrushtechnik oder gar am Rechner ein expressionistisches Bild malen?
Man kann ein Bild des expressionistischen Bildes malen. Es kommt eine Ebene dazwischen, die verfremdet, ent-fremdet.


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Lieblingssongs
Anders als bei anderen Alben mit eindeutigen Favoriten und Schlusslichtern, beobachte ich, dass bei TND jeder andere Lieblinge hat, wobei das Album insgesamt meist recht gut wegkommt. Es scheint, es wird wenig geskippt.
Spannend ist, dass die Geister sich bei einigen Liedern extrem scheiden: „If You Can See Me“ und „Heat“ haben beide extreme Hasser und Liebhaber.
Bei den Bonustracks hat wohl „God Bless The Girl“ eine leichte Favoritenrolle inne.
Generell fällt auf, dass, anders als bei anderen Bowiealben, die Fachwelt bei TND recht ausgewogen ihre Präferenzen verteilt.


Bewertung und Relation zu anderen Bowiealben
Obwohl ich TND sehr mag und pausenlos anhöre, so ist es kein zweites „Outside“. Trotzdem geben wir bei Amazon natürlich die 5 Sterne. Verglichen mit anderen Dingen, denen ich schon 5 Sterne gegeben habe, hat TND sie auf jeden Fall verdient!
Doch seien wir ehrlich, es ist nicht das epochale, die Geschichte der Musikgeschichte umkrempelnde Werk, das die Zeit in ein „davor“ und „danach“ einteilt. Dazu ist es musikalisch zu unaufgeregt, wohingegen das Konzept, so wie ich es verstehe, durchaus etwas sehr Radikales hat und außerordentlich aufregend ist – aber dazu später.

Da wir die Musik immernoch über die Konzepte stellen, erlauben wir uns ein wenig Kritik:
TND ist fast zu eingängig. Schon beim ersten, spätestens beim zweiten Anhören grub es sich sogleich geschmeidig in die Gehörgänge und blieb seither dort fest haften. Es ist voll und ganz „Pop“ und kaum experimentell, wenn auch hochwertig in jeder Beziehung.
Es gefällt mir sehr gut. Aber ich hätte gern etwas mehr gekaut.

Um „Outside“ und die B-Seiten von „Heroes“ und „Low“ zu mögen, habe ich mehrere Jahre gebraucht. Dafür waren es „Longburner“. Wie lange TND glüht, wird man sehen.
Positiv vermerke ich, dass ich es auch nach beinahe einem halben Jahr noch nicht satt habe, wenn ich es auch nicht mehr im Dauerloop höre.

Jedoch vermisse ich ein 8-minütiges Waberstück am Ende, das sich langsam aufschaukelt und entwickelt, so eine klassische Bowie-Mini-Oper. Kein Song ist länger als knappe 5 Minuten. Es fehlt das Irritierende zum Knabbern, die atemlosen Sternstunden, die den Hörer nur mit offenem Munde staunend zurücklassen. So ein „Motel“ oder „Lady Grinning Soul“ oder „Sweet Thing“ oder „Safe“ oder „Discoking (Underworld)“. „You feel So Lonely“ kommt am ehesten an die klassische Bowie-Minioper ran, bleibt aber auch hübsch im Rahmen der akustischen Komfortzone.
„Heat“ und „If You Can See Me“ sind gewiss die außergewöhnlichsten Stücke. Aber auch sie sind Dreikorntoast im Vergleich zu dem, was uns Bowie in früheren Jahren an Schwarzbrot zugemutet hat. Sie zeigen aber, zu was der alte Herr noch fähig ist, wenn er diese Songs noch in aller Konsequenz weiter getrieben hätte. Ich bin sicher, Bowie „kann auch anders“. biggrin

Vielleicht sollten wir TND einmal zu den jüngeren Bo-Alben in Relation setzen – und da, finde ich, sieht es trotz oben beschriebenen Mangels gar nicht so schlecht aus, denn welches Album ist schon über jeden Zweifel erhaben?
Mancher war zunächst an „Reality“ erinnert, aber „Reality“ ist insgesamt viel flacher produziert, wirkt unfertig und inkonsistent und enthält recht viel Füllmaterial – allerdings auch so etwas Geniales wie „Discoking“ (von 1998).
„Heathen“ wird allseits geliebt und auch ich mag es sehr. Es enthält großartige Songs wie „Heathen“, das von „Toy“ hinübergerettete und weiterentwickelte "Slip Away" und „Sunday“, aber auch ein paar Cover und nicht ganz so belangvolle Songs. Vor allem aber hat „Heathen“ diese spezielle Atmosphäre durch den dunklen Sound, wodurch es einzigartig wird.
„Hours“ mag ich sehr gern, aber es wird in Fachkreisen oft gar nicht geschätzt. „BTWN“ ebenfalls, obwohl es ein paar schöne Krüstchen enthält. Und „Earthling“? Gilt allgemein auch nicht als Lieblingsalbum, wenn auch „Telling Lies“ und „7 Years in Tibet“ es herausreißen. Das vielgeliebte „Outside“ ist sicher großartig, aber ich gestehe, dass ich es selten in Gänze auflege. Und dann war da noch „Toy“, auf das vielleicht „Valentine’s Day“ in einer rudimentären Version auch draufgepasst hätte.

Wir sehen, die meisten Bowiealben enthalten Licht und Schatten. Aber das Licht ist oft so grell, dass es die Schatten überstrahlt. Ich schrieb an anderer Stelle, dass ich inzwischen selten Bowiealben am Stück höre. Ich skippe sehr viel und/oder höre einzelne Songs in Dauerloop, bzw. sammle meine Lieblingsstücke auf Compilations, gern auch als Liveversionen.
TND hingegen kann ich sehr gut am Stück hören. Hier finden wir insgesamt wenig Schatten, aber dafür ist das Licht weniger grell. Wie man dazu steht, möge jeder selbst beurteilen.
Allerdings sei noch einmal erwähnt, dass für TND die Live-Bootlegs fehlen, die noch verborgene Qualitäten der Songs zu Tage fördern könnten, ja, aus sterilen Albeneinspielungen wahre Klassiker zu machen vermögen!



Der Bo-Bonus
Natürlich bin auch ich mir des Bowiebonus bewusst, den der Bowiefan ganz unbewusst einem Bowiealbum gewährt, zumal wenn es das erste nach 10 Jahren ist.
Nicht umsonst heißt es, würde viele von uns das bowische Verlesen eines Telefonbuches entzücken! Auch tat die Freude über das Album und darüber, dass unsere Befürchtungen bezüglich der Gesundheit des Meisters unbegründet waren, das ihre dazu.
Solche Glücksdrogen im Hirn können die Meinungsbildung verfälschen.

Also, Zeit für das Spezial-Experiment: Man habe 5 Bowiefans vor dem 8. Januar 2013 weggesperrt und habe sie nach dem 8. März herausgelassen.
Man achte streng darauf, dass sie keinen Blick in irgendwelche Medien tun und habe alle Bowieplakate in der Stadt mit Iman-H&M-Plakaten verhängt.



Man reiche ihnen dann eine unscheinbare selbstgebrannte CD mit dem Hinweis, das sei das Debüt der Österreichischen Indie-Pop-Band „The Powidels“, das man als recht vielversprechend erachte. Ob sie - als erwiesene Freunde guter Musik - diese Ansicht teilten…?
Vielleicht kann man sogar ergänzen, dass man selbst finde, dass die Powidels ein wenig nach Bowie klingen. Ob sie (die Fans) das bestätigen würden…oder diese Ansicht weit von sich wiesen…?

Wie gefällt es Euch? Wo kritisiert ihr? Wo schreit ihr „Anfänger!“? Oder sagt „Ganz nett, aber nix besonderes“. Oder Ihr legt die Stirn in Falten mit der bedächtigen Anmerkung: „…ein wenig haben die bei Bowie gelinst, diese Plagiateure. Aber es kann eben nur EINEN geben…!“ Und wo nickt Ihr anerkennend mit dem Kopf und sagt: „Wow…Klasse CD. Gleich noch mal anhören! Die Band muss ich mir merken… spielen die vielleicht demnächst im „Magnet Club“…?“



Ach… wir vergaßen das Wegsperren…?
Tja, dann müssen wir das Experiment eben virtuell durchführen. Versucht einmal das Album „unvoreingenommen“ zu hören. Vergesst für den nächsten Durchlauf einfach einmal, wer da singt…
Aber wahrscheinlich ist es für dieses Experiment bereits viel zu spät. Der Schaden ist angerichtet und TND im Gehörgang fest eingefräst… Razz



Superbowie
Wird das Album denn auch „Superbowie“ gerecht? Ihr kennt sicher alle „Superbowie“ aka „Superbo“, der regelmäßig antrat, um die Musik neu zu erfinden, die Fans zu schockieren und gnadenlos den Kampf gegen die finsteren Mächte des Rockbusiness aufnahm – gegen Langeweile und alles das, was vorher gewesen ist. Hat Bowie bei TND Superbo in den Keller gesperrt und ihn nur das Cover malen lassen?

Bowie hat es dieses Mal vermieden, irgendwelchen Trends nachzulaufen und/oder sie als vermeintlicher Trendsetter neu zu erfinden. Ganz gelassen zieht er sich auf das zurück, was er beherrscht wie kein anderer: Exakter und verspielter Artpop mit interessanten Sounds und verfremdeten Instrumenten, eben ganz „typische Bowiemusik“ - das, womit man ihn assoziiert, wenn er nichts anderes ausprobiert. Da wird keine Grenze musikalisch ausgelotet oder gar verschoben.

Was ebenfalls auffällt, ist, dass Bowie zwar gut bei Stimme ist, dieselbe aber im ganzen Album eher dezent abgemischt ist. Bei „You Feel So Lonely“ könnte er theoretisch doch noch mehr aufdrehen, tut es aber nicht. Man fragt sich, ob er vielleicht doch nicht mehr so gut bei Stimme ist und sich schonen wollte/musste, oder ob es eben andere, absichtliche, ästhetische Gründe hat, dass typische Bowie-Arien auf TND fehlen, als ob die Primadonna zurück in die Reihe getreten ist.

Man muss ja nicht immer die Musik neu erfinden, flüstert das kleine Superbo plötzlich. Avantgarde sei in der Post-Postmoderne ja furchtbar gestrig, und so prätentiös! Das haben wir doch gar nicht mehr nötig… !
Bowie macht, was er will – und jetzt eben ein knackiges Album. Und er mogelt uns die Ungeheuerlichkeiten auf dem Album ganz beiläufig unter. Man könnte sie fast übersehen.

Das ganze Album strahlt Understatement aus, nicht nur durch die weitgehend fehlende Werbung und Promotion, auch beim Cover und sogar letztendlich in der Musik. Hier macht einer ein Album, der nicht auffallen will, der gar nicht um Aufmerksamkeit buhlt – auch nicht durch revolutionäre Klänge. Dass ein Bowie die Aufmerksamkeit dennoch erhält, wissen wir. Aber ist das vielleicht der wahre Luxus heutzutage?


Allzeit Guten Flug!




Die Songs

Nun folgt ein Blick auf die einzelnen Songs, auch auf die Gefahr hin, dass hier wiederholt wird, was schon an anderer Stelle im Forum steht.
Selbstverständlich besteht die Gefahr, dass wir total falsch liegen, denn manche Songtexte erschließen sich kaum und die Interpretation muss assoziativ bleiben.

The next Day - Ganz abgesehen vom Kirchenvideo, das ich als einen eigentlich ganz konservativen Appell zur Rückkehr zu wahren Werten ansehe (Bowie als Jesus, Franziskus, Luther…), habe ich den Song eher allgemein interpretiert. Der Protagonist wird gejagt und grausam gelyncht (Scaphismus? Dann ist jeder „nächste Tag“ in der Tat ein Fluch!). Es klingt schon halbwahnsinnig. Angeblich soll es im Mittelalter spielen, doch ist der Text sehr aktuell in Anbetracht der politischen, kriegerischen Gegenwart, in der Religionen oft eine unselige Rolle spielen.

Dirty Boys - Klassengegensatz von Arm und Reich und seine Folgen, Gangs, die der Oberschicht das Fürchten lehren und deren Amüsement Randale heißt. Vielleicht hat Bowie sich ja von den Londoner Riots 2011 inspieren lassen. Ein Lied auch über Hoffnungslosigkeit und die Verführung junger Leute zur Gewalt und allem, was damit verbunden ist ("Schweigen können"). Erinnert darin an „Boss of me“. Es enthält zwei Botschaften: Zum einen, dass Armut und Hoffnungslosigkeit Gewalt generieren können, zum anderen, dass auch die Reichen nicht sicher sind, wenn der Mob sich wirklich einmal zusammenrottet.

Stars - Das ist die Scheinwelt, die man uns vorgaukelt, voll falscher Leitbilder, die uns aus ihrem „Pantheon“ heraus manipulieren und unzufrieden mit unserem Leben machen. Sie drängen sich in unser Privatleben und wir orientieren uns an ihnen. Diese mediengenerierte Unzufriedenheit ist ein Motor im Kapitalismus. Aber das System profitiert auch von unserer Neigung, uns konformistisch an die Ideale des „Pantheon“ anzupassen.

Love is lost - Nur Liebeskummer? Glaub ich nicht. Geht es vielleicht um junge Popstars, die vom Business abgerichtet werden, was ja an Kindesmissbrauch grenzt? Ein wenig musste ich an die konspirologischen Youtubies denken über „Popmusik, Freimaurer und Satanismus“. Oder geht’s vielleicht sogar um Frauenhandel und Prostitution unter Vorspiegelung falscher Tatsachen? Auf jeden Fall scheint ein junger Mensch in eine andere, verlockende Welt einzusteigen, was jedoch einen hohen Preis hat.

Where are we now? – Wunderschönes Lied, das aus dem Rahmen fällt mit der melancholischen Grundstimmung und dem Fehlen von Zynismus und Gewalt. Bowie blickt zurück auf „sein Berlin“ als Metapher für die Vergangenheit, aber er weiß, dass Nostalgie („Walking the Dead“) keine Lösung ist. Dieses Lied weist den Weg, ist nicht umsonst die vorgeschobene Single gewesen. Wo stehen wir? Am Vorabend des „Nächsten Tages“! Zurück können wir nicht. Was wurde aus den Hoffnungen der „20000 People“ auf der „Bösen Brücke“? Welche Hoffnungen haben wir jetzt? Aber vielleicht spielt die Erfüllung der Hoffnungen gar keine Rolle, solange „wir uns haben“ (as long as there’s you...“). In diesem Lied steckt im Prinzip das gesamte TND-Konzept, wie ich es verstehe.

Valentine’s Day – Man kann es nicht fassen, was da passiert und packt es in eine beinahe süßliche Melodie, so wie mancher am offenen Grab seiner Lieben hysterisch kichert. Eigentlich fehlt nur der Kinderchor. Was ist das für eine Welt, in der Kinder derart durchdrehen? Aber ein wenig werde ich auch den Verdacht nicht los, dass Bowie den jungen Mann durchaus verstehen kann - und das nicht erst seit dem Video.

Boss of me – meiner Meinung nach ein Lied über ferngesteuerte Kampfdrohnen und kleine Mädchen im US-Hinterland, die sie bedienen, also auch ein Lied über den Missbrauch solch junger Menschen, die eigentlich mit Krieg nichts am Hut haben. Doch der moderne, „smarte“ Krieg kommt bis in die Kinderzimmer zu „Small Town Girls“, denen (noch) die Tränen kommen angesichts ihres Tuns. Aber sie werden das überwinden. Hinweg mit der Tötungshemmung! Das also lehren wir unsere Kinder.
(passend zu „Valentine’s Day“ und „Dirty Boys“)

If you can see me – Sehr kryptisch, enthält aber auch einiges an Unfreundlichkeiten. Geht es um Stalking? Oder vielleicht um Medien, Kommunikation, Internet, TV und damit verbundene Überwachung und Zensur?
[Habt Ihr mehr Ideen zu dem Song?]

I’d rather be High – Der Soldat, der lieber „high“ sein will als im Krieg. Er hat den Schritt schon vollzogen, den das „Small Town Girl“ in „Boss of me“ noch tun muss. Aber es geht ihm nicht gut dabei. Musikalisch passt die beatleshafte 60ties-Psychedelik. Ich musste daran denken, dass die Soldaten, wenn sie in den Kampf ziehen, oft laut Musik dabei hören. Aber ist wirklich nur der konkrete „Krieg“ gemeint, oder nicht auch der Wahnsinn, der uns umgibt?

Dancing in the Stars - Dümmliche Melodie und seichter Upbeat. Wir verschließen die Augen vor der Realität und flüchten uns in Traumwelten /Spaßgesellschaften. So wird man „high“ im Hinterland. Man gibt uns Brot und Spiele, wir tanzen im luftleeren Raum bei den Sternen und bauen Luftschlösser. Es ist nicht nur ein begrifflicher Nachklang von "Stars Are Out Tonight". Doch nun ist das konsumierende Publikum und seine Sehnsucht nach Ablenkung gemeint. Da passt der flache Sound bestens und wird mit dem dämlichen Synthiegequietsche durch Übertreibung ad absurdum geführt.

How does the Grass Grow? - Nein, das ist kein Bezug auf „I’d Rather Be High“, sondern dieses Gras wächst über Gräbern… angeblich auf dem Balkan, also vermutlich verscharrte Leichen in Kriegs- und Massengräbern. Kann aber überall sein. Das Grauen kommt in der fröhlichen Melodie daher wie der Killer im Clownskostüm.

You set the World on Fire – Der Song ist in einen energetischen 80er Sound gekleidet. Es werden deutlich Namen genannt: „Bob Dylan, Dave van Ronk, Joan Baez“ und ihre Treffpunkte „Gaslight Cafe“ und „Bitters End“. Klingt also die Hoffnung auf Idealismus, Revolution und Weltverbesserung an? Auf Hessel’sche Empörung?
Oder ist das ein Seitenhieb des alten Zynikers auf jene Künstler, die vielleicht einmal antraten mit solch politischem Impetus, woraus aber nichts wurde als Kommerz. Auch der Idealismus ist nur Big Business. Deshalb auch die 80erJahre Musik, zu der, wie wir aus Bos Äußerungen zu seinen "Phil Collins Years" wissen, er höchst amibivalente Gefühle hegt. Oh, wie gemein.

So lonely you could die - Bowie wünscht jemandem, dass er allein und einsam stirbt! An wen richtet er diesen Wunsch? Es kursiert die Interpretation, dass damit die eigene Künstlerperson gemeint sein könnte, welche vampirisch die Umgebung aussaugt. Damit wäre es eigentlich eine Selbstanklage. Die „5-Years“-Trommel ist dann ein Nachklang der alten Zeiten, als er seine Karriere gebaut hat und dabei „über Leichen“ ging. Bereut er das? Trägt David Jones damit David Bowie zu Grabe?
Ich habe es eher auf die Weltlage bezogen, auf die Vertreter der Macht und des Todes und ihre Handlanger: Killer, Funktionäre, Rädchen im Getriebe, die unangreifbar sind. Aber auch ein solcher ist ein Mensch und stirbt nicht gern allein. Das einzige an Rache, was wir „normalen“ Menschen diesen anhaben können, ist jener (un-)fromme Wunsch, den Bowie beinahe hilflos vorträgt. Die Rache aber sei nicht Sache der Menschen, könnte man ergänzen…
Die „5-Years“-Trommel steht dann, wie im Original, sinnbildlich für den Herzschlag: Das bowische Memento Mori.

Heat - geht es vielleicht um die Unmöglichkeit, nicht selbst mitschuldig zu werden an all dem was geschieht in der Welt, wir sind irgendwie alle darin verflochten, ein unerträglicher emotionaler Zwiespalt, der einen zum „liar“ macht. Wieder geht es also um die Gratwanderung zwischen dunkel und hell – dies scheint mir ein zentrales Thema des Albums zu sein. Aber dieses Mal kommt das Wort „Love“ vor. Meine (etwas platte) Assoziation: Ein Sohn eines SS-Manns, der sich in eine Jüdin verliebt. Gibt es ein richiges Leben im Falschen? Die Grenze zwischen Schwarz und Weiß wird unscharf, vielleicht sogar Grau.
Vielleicht ist „Heat“ tatsächlich der optimistischste Song auf TND, auch wenn er am düstersten klingt. Aber er ist auch der mit der wenigsten Ironie und Gemeinheit (WAWN läuft außer Konkurrenz).
Damit wäre er in der Tat ein guter Schlusspunkt für das Album, das einen solchen Bogen beschreitet – von der Schilderung des Wahnsinns über die Anklage bis hin zur Erkenntnis der eigenen Verwicklung und Besinnung auf das Menschliche. Aber auch hier entkommt man nicht der dunklen Seite in sich selbst… („I must hate him more“) …gerade so, wie Darth Vader Luke Skywalker zum Hass zu überreden versucht.




Die Bonustracks

Bonustracks laufen außer Konkurrenz. Der Rahmen des Albums ist von „The Next Day“ bis „Heat“ eigentlich rund. Trotzdem hab ich die Deluxe gekauft, sogar die japanische. Mehr Bowie ist mehr Bowie.
Warum sind Bonustracks Bonustracks? Oft sind sie qualitativ nicht schlechter als die ausgesuchten Albumtracks, aber vielleicht passen sie nicht ins Konzept, oder sind redundant… oder zu experimentell… noch nicht ganz fertig… gefallen nicht ganz so gut… oder sie sind eben einfach eine Art Dreingabe.

So She - ich gestehe, zu diesem Song fällt meinem Apocalypsorama nichts ein. Vielleicht ist es wirklich nur ein schönes Lied, das nicht in den sonst vorwiegend finsteren Rahmen gepasst hat und deshalb als Bonus mitkam? Oder versteckt sich etwas Extra-Gemeines hinter der leichtfüßigen Melodie?
[Ideen?]

Plan - Instrumental, wahrscheinlich nur entstanden, weil der Song „Stars“ zu kurz für das Video gewesen ist. Eine klassische Dreingabe, würde ich sagen. Seien wir froh, dass wir das noch auf CD bekommen haben, sonst würden wir doch anfangen, das Mp3 aus dem Video zu extrahieren, oder? Der Titel „Plan“ hat keinen Sinn, außer, dass er, wie ich finde, gut ins Konzept passt. Ein Plan ist auf die Zukunft gerichtet und enthält Hoffnung.
Ja, mach nur einen Plan
sei nur ein großes Licht
und mach dann noch 'nen zweiten Plan
gehn tun sie beide nicht.

(B.Brecht)


I’ll take you there - Auch hier geht’s um oft enttäuschte Hoffnungen auf ein besseres Leben im Morgen. Die USA stehen als Symbol für dieses „Morgen“.
Die Musik klingt überkandidelt wie die Werbereklame am Broadway.
Warum Bonus? Vielleicht, weil es einen kleinen, aber viel zu konkret ausformulierten Hoffnungsschimmer (wenn auch mit Mahnung zur Bescheidenheit) bereithält und damit „Heat“ ins Gehege gekommen wäre?

God bless the girl - Angeblich ein Song über Jackie Kennedy Onassis? Das Gerücht stammt von den japanischen Sleevenotes, wie bei BWW zu lesen.
Auf B-net schrieb jemand, dass mit „Jacqui“ eigentlich das Land Japan und seine Bewohner gemeint sein könnten, und es um Fukushima geht („The wonder turns to danger, spring turns to winter“) – damit wäre auch klar, warum es auf der japanischen Edition erschienen ist. Trotz des garstigen Themas wäre es in diesem Falle aber ein erstaunlich freundlicher Song, frei von Zynismus und Gemeinheit.
Die Frage, wie gläubig Bowie ist, bekommt durch die Nennung von „Gott“ neue Nahrung. Trotz Kirchenbashing halte ich ihn ja durchaus für einen religiösen, oder zumindest spirituellen Menschen.
Oder geht es, was ich zu allererst dachte, um käufliche Liebe? Dann wäre der Song wiederum sehr zynisch und gemein. [Discuss!]




Das Cover
Was haben wir uns über das Cover gewundert! Nur eine Bildnisverweigerung im Internet-Zeitalter? Oder die Aufforderung selbst kreativ zu werden?



Glaub ich nicht.

Das haben andere lange vor dem Internet auch schon gemacht:




Stattdessen sehe ich Parallelen zu „Heathen“. Es ist die Steigerung des Heathencovers. Dort fehlen die Augen, hier fehlt das ganze Cover – gewissermaßen die „Augen“ eines Albums. Auf „Heathen“ zerstört er Bilder und Bücher (als Sinnbild für Ideen), hier sind sie (die neuen Ideen) schon nicht mehr vorhanden.


(man beachte das Kreuz!)

Ist er auf „Heathen“ noch verzweifelt am Hadern, so hat das „Nichts“ auf TND gewonnen. Phantasien und Utopia sind abgebrannt. Der Nihilsimus hat gesiegt. Es wird einen neuen Tag geben, aber in die menschlichen Ideen, denselben zu gestalten, hat Bowie das Vertrauen verloren.
Das „Reality“-Cover steckt irgendwo dazwischen, maskiert den Bowie hinter der zweidimensionalen Fassade des Mangacomics. Es entspricht ein wenig dem Song „Dancing In The Stars“, wobei einem das Lachen im Halse stecken bleibt.



Das weiße Quadrat könnte man auch als Zitat von Malewitschs „Schwarzem Quadrat“ betrachten:



…so wie es laut Theorie im All als Gegenstück zu schwarzen auch weiße Löcher geben soll.
Malewitsch hat im Übrigen auch weiße Quadrate gemalt. Und rote.

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Es hat schon andere inspiriert:

Victor Vasarely - Hommage to Malevitch


Das weiße Quadrat und die Standartschrift „Arial“ zeigen aber noch etwas: Die Abwesenheit von "Etwas".
Es verweist auf den besonders zu Zeiten visueller Übersättigung höchst interessanten Komplex von "Das Nichts" in der Kunst - mit all seinen Interpretationsmöglichkeiten.


*click!*



Oder war das die Inspiration? Razz





Warum "Heroes"?
Ich muss zugeben, dass die sechs Entwürfe im V&A meinen Interpretationen einen kleinen Dämpfer verpassten.



Zuerst „Pin Ups“ mit Micky-Maus-Ohren? Oder ein kopfstehendes, altes Konzertbild? Kopfstehende Schrift hatten wir schon bei „Heathen“. Und dann statt eines weißen ein rotes Quadrat, das an den Rändern grafisch ausgefranzt ist? Oder nur ein roter Klecks wie auf dem „Aladdin Sane“ Cover?

Vermutlich stand ganz am Anfang das rein grafische Muster, wie mit dem Spirographen (o.ä.) gezeichnet – eine schwarze und weiße Musterung, womit wir wieder beim Dualismus „hell und dunkel“ sind.

Noch eine Inspiration?

Victor Vasarely – Vertigo

Man muss sicher nicht bei jedem Schachbrett gleich an die Freimaurer denken… aber vorenthalten möchten wir diesen Aspekt dennoch nicht:

Denn auch hier geht es um helle und dunkle Mächte.


Nun, wir wissen alle, wie die Kunst funktioniert. Manch Geniestreich folgt einer langen Durststrecke. Denn ein Geniestreich ist das TND-Cover auf jeden Fall. Es ist der simpelste und radikalste der Entwürfe. Der Wiedererkennungswert ist gigantisch und der Adaption durch Fans keine Grenzen gesetzt (z.b. in Avataren und Montagen). Die Promotion funktioniert von selbst.
Schön wär’s, wenn es auch als Seitenhieb auf die Copyright-Mafia gedacht wäre: Kann man einen weißen Zettel mit Arialschrift abmahnen?

Wir wissen nicht, wieso „Pin Ups“ zunächst Pate stand. Es ist kein besonders gutes Album und vor allem voller Coverversionen. Vielleicht war es als Wink mit dem Zaunpfahl auf die Eigenzitate gedacht? Und warum „Aladdin Sane“? Gab es noch weitere Entwürfe? Wurden gar alle Alben ausprobiert?


Es kursierte schon im Januar auch dieser Entwurf (l.) im Internet, der auf einem der TND-Fotos basiert, die es erst im März als Plakat (r.) geben würde. Die Quelle ist mir unbekannt.

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Ist es also sinnvoll, über die Auswahl von „Heroes“ zu sinnieren? Es passt so gut zu „Where are we Now?“ mit seiner Berlin-Reminiszenz! Nur Zufall?
Was war zuerst da? „Where are we now?“ oder der „Heroes“-Entwurf? Gab es den Plan, WAWN als Aperitif vorauszuschicken, schon vor dem Cover-Entwurf?
Wir vermuten dies, da der Song so aus dem Rahmen fällt. Oder ist er vielleicht sogar ein Vorgriff auf das, was bei Bowie noch im Schrank liegt?

Es darf spekuliert werden.

Ich traue Bo&Co aber auch zu, die 6 Entwürfe extra für die Ausstellung nachgelegt zu haben, oder zumindest nur die 6 absurdesten herausgesucht zu haben. Razz




Apocalypsorama

Muss man sich Sorgen machen? Das sind wir ja als stets bemühte Fans gewohnt.
Da spricht viel Bitterkeit, viel Zynismus, viel Verzweiflung aus den Texten und der oft konterkarierend schmissigen Musik. Der Kontrast zwischen Texten und Musik verleiht dem Album zusätzlich etwas Abgründiges, verschiebt das Grauen in den Bereich des Nichtfassbaren.
Und, anders als in früheren Bowiealben sehe ich hier keine Kunstpersona am Werk, die sich in die Rolle des Anklägers begibt, weder Ziggy, Duke noch Nathan Adler oder sonst jemand. Spricht hier gar Mr. Jones zu uns?

Der Blick in den (Rück-)Spiegel
TND passt exakt in unsere Epoche, eine Zeit des Umbruchs, in der alte Rezepte und lineare Lösungswege versagen und niemand so recht weiß, wie es weitergeht, und was hinter der nächsten Ecke lauert.
Die Schöpferkraft kreist um sich selbst, übt Rückbesinnung und verspielte Wiederholung von alten Versatzstücken, sprießt richtungslos wie die wirren Angsttriebe kranker Bäume. Der Kompass versagt. Das Neue ist nicht neu, jedoch handwerklich perfekt.
Nicht einmal mehr der Visionär Bowie wagt es, Vorhersagen zu treffen und eine Richtung zu weisen. Fast verzagt greift er in seinen wohlvertrauten Werkzeugkasten und bleibt stilistisch auf sicherem Terrain. Aber das tut er mit Perfektion und ironischer Distanz und beißendem Sarkasmus. Nicht umsonst ist man geneigt, bei fast jedem der TND-Songs an den Sound eines seiner früheren Alben erinnert zu sein, während die kühle Perfektion der Einspielung aber fast erschauern lässt.
Große Ratlosigkeit. Oder ist das, was er sieht, so gruselig, dass er lieber zurück in den Spiegel als nach vorn schaut?
Ist diese Rückschau nicht ein Widerspruch zum Titel „The Next Day“?






Zukunft?
Bowie wäre nicht Bowie, wenn er es bloß im Manierismus und sentimentaler Rückschau bewenden ließe. Sentimental ist hier gar nichts. Und Rückschau ist nur im Rückspiegel.
Nein, der Name „The Next Day“ ist Programm: “The Next Day”, das ist auch „The Day After“ oder „The Day After Tomorrow“.
Da kommt etwas auf uns zu, das verschlägt uns die Sprache. Nicht einmal Bowie wagt es, dieses Neue zu fassen. Wer weiß schon, wie es unten aussieht, wenn er bei Nebel auf der Klippe steht…? Morgen wollen wir einen großen Schritt vorwärts tun.
Die Zukunft ist blank, so blank wie der weiße Zettel auf dem „Heroes“-Cover. Alles, was wir wissen, ist, dass die Sonne wieder aufgehen wird, dass der nächste Tag kommen wird. Auch nach der Apokalypse, selbst nach einem atomaren Winter. Die Zeit bleibt nicht stehen, wenn es keine Uhren mehr gibt, oder niemanden, der sie abliest.



Wohl wollen wir hier nicht gleich mit dem Schlimmsten (aka Atombombe) rechnen, „Apokalypse“ kann vieles bedeuten. Neben allseits bekannten Definitionen wie „Weltuntergang“ und „Katastrophe“, weiß Wikipedia auch folgendes: „Enthüllung“, „Offenbarung“, „Zeitenwende.“



Heute
Die Themen auf TND sind Gewalt, Wahnsinn, Krieg, Enttäuschung, Missbrauch, Manipulation und Macht. Bowie sagt zwar immer, dass er mit seinen Texten nichts zu tun hat, aber das glaube ich ihm nicht so ganz.
„We have a nice life.” Wie garstig.
Da will man den Bo einfach einmal trösten (har intrigant). So schlimm ist es doch nicht. Oder doch? Doch, genauso schlimm ist es. Wer noch fröhlich ist, hat rosa Scheuklappen auf und sieht die Realität nicht (Reality-Cover, „Dancing in the Stars“). Da fehlen uns die Worte und sogar die neuen Ideen für Zukunft, Sound und Cover.
Immer wieder taucht die Versuchung auf, zur „dunklen Seite“ zu wechseln – ob verführt durch die Peergroup („Dirty Boys“) oder genötigt durch das System/das Militär („Boss of me“, „rather be high“) oder auch aus Liebe („Heat“)…usw…

Ist Bo gar depressiv? Muss man Angst haben, dass er irgendwann Imans AK-47 aus dem Schrank nimmt und Valentinstag feiert?
Das glauben wir dann doch nicht, denn TND enthält trotz allem den Funken, der das Leben lebenswert erhält: Das Menschliche.






Hoffnung?
Die Welt ist aus den Fugen geraten und der Wahnsinn regiert. Unsere Epoche mit all den Ideen, die sie groß gemacht hat, ist an ihrem Ende angelangt. Der Glaube an kollektive Utopien, Ideologien und Religionen ist verloren und unsere Ideale korrumpiert. Ein System, das Kinder zum Töten abrichtet, hat eigentlich seine Existenzberechtigung verloren.
Da ist TND dem Album „Heathen“ näher als man denkt. Bowies Ansinnen, seiner Tochter auch etwas „Positives“ zu hinterlassen, hat irgendwie nicht geklappt. Oder doch?
Bowie lässt durchaus einen Hoffnungsschimmer durch die Tür scheinen - und zwar einen, bei dem uns ganz warm ums Herz wird. Man ahnt ihn in „Heat“ und in „I’ll take you there“, und in “Where are we now” natürlich.
Es ist eine Hoffnung, die sich nicht mehr auf übergeordnete Utopien, sondern auf Mitmenschlichkeit, Liebe und bescheidenes Glück stützt - gewissermaßen also auf das „nackte Menschsein“. Unsere Gefühle und Bedürfnisse – sie sind das einzige, dessen wir uns als Menschen sicher sein können, und das uns allen gemeinsam ist, ob Bettler oder Banker.
Aber Bowie predigt dies nicht als spießige Schrebergartenidylle, sondern beschwört lediglich den Glauben an das Menschliche, resultierend aus unseren Nöten und Bedürfnissen, die uns erst zu „Menschen“ machen. Unsere Schwäche ist unsere Stärke.





Die Konkurrenz
Ein wenig löst TND bei mir ähnliche Gefühle aus wie Portisheads „Third“, obwohl so verschieden im Sound. Portishead aber versuchen, der Ungewissheit und dem Unbehagen einen Klang zu geben. Damit waren sie musikalisch mutiger, andererseits aber mehr der Fortschrittsidee verhaftet.
Dagegen ist Bowie mit TND konsequenter in der Umsetzung der Ungewissheit und Verzagtheit in ein Gesamtkunstwerk, indem er sich einer aktuellen Formgebung verweigert – und damit auch die historische Einordnung des Werkes anhand von Sound und Design erschwert. „Typisch manieristisches Produkt in der Dekadenzphase einer Gesellschaft, kurz vor deren finalem Niedergang“, wirft das kleine Bo gerade klugscheißernd ein [der reine Neid].
Auf jeden Fall gefällt mir beides besser als Muses aktuelle Kitschsymphonien, die sich umso plakativer mit Apokalypse und Endzeit schmücken, aber dabei doch seltsam an der Oberfläche bleiben.





"…more music soon"
Nach einem solch „schlusspunktigem“ Album, welches keine Vorstellung über die Zukunft zulässt, fällt es schwer, sich vorzustellen, wie das nächste Album aussehen könnte.
Wenn Bowie wirklich noch, wie man hört, ein weiteres Album im Schrank hat, wird es interessant sein, mit welchem Cover und Konzept er das veröffentlichen wird. Konsequent wäre vielleicht ein sehr „innerliches“ oder musikalisch abstraktes Album, wenn es nicht nur Resteverwertung des TND-Überschusses sein soll.

Wir geben in diesem Zusammenhang aber zu bedenken, dass Bowie sowieso immer macht, was er will und mit Vorliebe Konzepte, die er mit dem Kopf aufgebaut hat, genüsslich mit dem A*** wieder umschmeißt. Konsequenz ist seine Stärke nicht.
Herrn Bowie ist alles zuzutrauen, also auch etwas ganz anderes, das ist das Gute an seiner Unberechenbarkeit.

Und wir wissen auch gar nicht, ob Bowie wirklich so ein Konzept gehabt hat, wie wir es hier beschrieben haben – aber ich traue ihm einiges zu, denn er ist ein kluger Kopf, kennt sich aus mit Kunst & Musik und hatte 10 Jahre Zeit.

Könnte TND eine Art Wegmarke sein? Also keine „Letzten Worte“, sondern Zwischenbilanz? Wie man den Schreibtisch aufräumt, um dann mit etwas Neuem loszulegen?
„Where are we now?“ - der Blick zurück, um dann umso frischer nach vorn zu schreiten? Wie bitte? Nach vorn?

Vielleicht ist das weiße Quadrat auch die Aufforderung an uns, die Zukunft zu gestalten und sie nicht den dunklen Mächten zu überlassen.






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Mir ist gerade noch aufgefallen, dass es noch eine Verbindung zwischen „So lonely“ und „Heat“ gibt.
Der unfromme Wunsch des Protagonisten in „So lonely“ bleibt unhinterfragt. Er begibt sich damit bereits auf eine recht dunkle Seite. Man muss jemanden schon sehr hassen, um ihm so etwas zu wünschen, was ohne Auswirkung auf das eigene Leben bleibt.
In „Heat“ dagegen zögert der Protagonist, diese Seite zu betreten. Der „Father“ in „Heat“ konnte dem Angesprochenen in „So Lonely“ ähnlich sein.





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Dr. Z. 2015
first published on Davidbowie.de, 2013
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ERGÄNZUNG, November 2014:




1 von 1 Kunden fanden die folgende Rezension hilfreich
Licht ins Dunkel
von lopey am 13. November 2014
Bowie schafft es immer wieder, uns zu überraschen. Musikalisch und aufnahmetechnisch scheint der Song simpel beim ersten Anhören, doch erschließen die tieferen Schichten sich nach und nach. Der Sound ist eher Lo-Fi, ich stelle mir Bowie im Heimstudio an der Rhythmusmaschine und mit einem Kazoo im Mund vor (auch wenn’s keins ist. Es würde passen). Das erinnert an den genial-anarchistischen Brian-Eno-Dilettantismus der frühen 70er. Was gut klingt, muss sich nicht rechtfertigen.
Der Song atmet allerdings eine bedrohliche Atmosphäre. Man weiß nicht, was kommt, aber unaufhaltsam treibt der donnernde Rhythmus weiter... vermutlich Richtung Abgrund. Die angeschrägten Keyboardklänge unterstützen in ihrer Verletzlichkeit den Suspense, während die infantil getrötete Melodie wie das Pfeifen im Walde verhallt.
Bowies arg zurückgenommene, hohe Stimme folgt dem Keyboard und wirkt scheu und verzagt. Nein, das ist nichts Gutes, was da besungen wird. Da bleibt Bowie seinem Themenkanon von "The Next Day" und "Sue" treu.
"War" - davon spricht der Text explizit, und am Anfang des Stücks, der ein wenig das Intro zu "Station To Station" heraufbeschwören mag, sind Schüsse zu hören.
"War" - ist da ein realer Krieg gemeint? Gar ganz konkret der erste Weltkrieg, dessen Jubiläum derzeit begangen wird? Oder einer der vielen aktuellen Kriege, die auf der Welt toben? Oder das ewige zwischenmenschliche Schlachtfeld? Oder der Kampf mit den eigenen Dämonen? Und welchen Bezug gibt es zu dem Theaterstück von John Ford, an dessen Titel der Titel des Songs eng angelehnt ist, und in dem es um Inzest geht? Der düsteren Assoziationen sind es viele...
Aber Bowie wäre nicht Bowie, wenn er uns in der Finsternis allein ließe. Immer schimmern da Hoffnung und Menschlichkeit, in der Musik, in seiner Stimme, so dass wir, trotz des Grauens, ein Licht im Dunkel finden können.

[Amazon-kritik von unserem Mitarbeiter "Lopey" zu Bowies "'Tis A Pity She Was A Whore"]


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Dr. Z. 2015
First published on Amazon.de, 2014
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